Alles Kapitalismus oder was? – wie wir uns „die Wirtschaft“ vorstellen.

Alles Kapitalismus oder was? – wie wir uns „die Wirtschaft“ vorstellen.

Wenn es darum geht gängige Vorstellungen von Wirtschaft und Wirtschaftsgeographien mit herrschaftskritischen Fragen zu dekonstruieren, so hat die die Marx‘sche Kritik der Politischen Ökonomie einige theoretische Bezugspunkte zu bieten. Welche Grundlagen und Perspektiven bietet diese Theorietradition für wirtschaftsgeographische Analysen? An welchen Stellen könnten andere Perspektiven hilfreiche Ergänzungen oder alternative Ansätze bieten? Um diese Fragen zu beantworten, betrachten wir nun die Begriffe Kapital, Akkumulation, kapitalistische Produktionsweise, Kapitalismus.

Kapital, Akkumulation

Karl Marx machte sich in seiner Mitte des 19. Jahrhunderts begonnen Reihe zur Kritik der Politischen Ökonomie (Kapital Band I, II und III) daran, die seiner Zeit im entstehen befindliche Produktionsweise zu analysieren. Es gibt zahlreiche Einführungen zu diesem Theorieansatz. Wir möchten hier auf einige Grundgedanken eingehen.

In der Geographie ist besonders David Harveys Marx Lektüre aufgenommen worden:
Harvey (2007)
.

Marx fragt nach dem Produktionsprozess gesellschaftlichen Reichtums in einer Gesellschaft, die auf dem Tausch von Waren basiert. Er stellt fest, dass die Mittel zur Produktion dieses Reichtums (Maschinen, Fabriken u.ä.; Produktionsmittel) nicht gleichmäßig in der Gesellschaft verteilt sind; vielmehr gibt es Menschen, die sie besitzen und andere die sie nicht besitzen. Dieses (Privat)Eigentum ist eine der Grundbedingungen dieser Gesellschaft. Dieser Umstand ist jedoch kein Ergebnis des Zufalls, sondern er wurde, wie Marx zeigt, über die gewaltsame Enteignung ursprünglich subsistenzwirtschaftlicher Bevölkerungen hergestellt. Diejenigen, die nun also nicht mehr für sich selbst wirtschaften können und über keine Produktionsmittel mehr verfügen, sind gezwungen, das Einzige, was sie noch haben – ihre Körper, ihre Arbeitskraft – zu veräußern: sie werden zu Arbeiter*innen. Die Profiteure von diesem System sind die Eigentümer*innen der Produktionsmittel, die die Arbeitskraft der Arbeiter*innen zur Anhäufung von Wert benutzen (Kapitalist*innen). Sie sind in der Lage, durch die Nutzung ihrer Produktionsmittel und verfügbaren Arbeitskräfte Waren herzustellen, die sie auf kapitalistischen Märkten verkaufen können.

Die Annahme ist dabei, dass nur menschliche Arbeitskraft wertschöpfend sein kann. Wird sie in einem Produktionsprozess eingesetzt, schafft sie mehr Wert als zum Erhalt der Arbeitskraft selbst notwendig wäre (Mehrwert). Dieser Mehrwert wird aufgrund der gesellschaftlichen Machtverhältnisse von den Eigentümer*innen der Produktionsmittel einbehalten. Sie können in der Form des Geldes den (Mehr-)Wert „anhäufen“ (akkumulieren).

Akkumulation ist jedoch eine Notwendigkeit für Eigentümer*innen von Produktionsmitteln, da sie in Konkurrenz zueinander stehen: sie müssen ihr Geldvermögen zur Organisation eines Produktionsprozesses (als wertsteigerndes Kapital) nutzen, damit sie nicht von anderen Kapitalist*innen aus dem Markt gedrängt werden. Dies ist die Notwendigkeit der Kapitalakkumulation, die die Eigentümer*innen der Produktionsmittel wieder und wieder zum Einsatz ihres Geldvermögens und zum Einsparen von Kosten zwingt.

Kapital ist also nicht einfach Geld. Erst wenn Geld dazu eingesetzt wird, einen Produktions- Zirkulations- und Konsumptionsprozess erfolgreich in Gang zu setzen, wird es Kapital, also ein zur Wertmehrung (Kapitalakkumulation) eingesetztes soziales Verhältnis.

Es gibt diverse Perspektiven, aus denen diese marx‘sche Analyse kritisiert wurde. Neben den in diesem Glossar aufgeführten Kritiken sei auch auf potenzielle Verbindungen von „Kapitalismuskritik“ und Antisemitismus verwiesen, siehe bspw.: Postone (1995).

kapitalistische Produktionsweise, Kapitalismus

Die oben grob umrissenen Prozesse können als kapitalistische Produktionsweise bezeichnet werden. Wenn sie das Geschehen in einem gesellschaftlichen Zusammenhang dominieren, kann dieser Zusammenhang als kapitalistisch bezeichnet werden. Während Kapital bzw. die kapitalistische Produktionsweise als Motor gesellschaftlicher Prozesse gesehen werden kann, ist der Kapitalismus die Gesamtheit der gesellschaftlichen Prozesse, die zum Erhalt und Funktionieren der kapitalistischen Produktionsweise notwendig sind. So kann das Aufziehen von Kindern, der Umgang mit Ressourcen, der Charakter von Freizeitaktivitäten, das Bildungssystem und Staatshandeln mehr oder weniger ((Wir könnten uns bspw. vorstellen, dass ein anti-autoritäres Bildungssystem unwillige Arbeiter*innen hervorbringen könnte oder ein Staat ein bedingungsloses Grundeinkommen einführt, das Arbeit überflüssig macht – beides wären Beispiele für Prozesse, die zwar nicht die Abschaffung, jedoch vielleicht eine qualitative Veränderung des oder Schwierigkeiten für die kapitalistische Produktionsweise hervorbringen könnten.)) zum Erhalt der Bedingungen der kapitalistischen Akkumulation dienen.

Kapitalistische Entwicklung verläuft derweilen krisenhaft. Temporäre und räumlich-eingeschränkte Entwertungen und Krisen können auf globaler Ebene zum Erhalt der kapitalistischen Systematik beitragen. Viele theoretische Ansätze betonen daher, dass wir bei wirtschaftlichen Entwicklungsprozesse nicht von einem normalen, d.h. stabilen und gradlinigen Prozess ausgehen dürfen. In dieser Sichtweise wird die vermeintlich normale Funktionsweise von Wirtschaften nicht als ein harmonischer und symmetrischer Zustand verstanden, der durch externe Störungen in Krisen gerät. Vielmehr wird angenommen, dass wir es immer schon mit instabilen, widersprüchlichen und asymmetrischen Prozessen zu tun haben. Krisen können darin – gerade aufgrund ihrer Zerstörungskraft – eine produktive Funktion haben, wenn sie für Wirtschaftsprozesse nötige Herrschaftsformen aufrecht erhalten oder auch das Ökonomische auf vorher nicht markt-förmige Bereiche des Lebens erweitern. Insbesondere für wirtschaftsgeographische Überlegungen, die ja die Veränderungen in raum-zeitlich gebundenen Produktionssystemen betrachten, scheint eine Neu-Formulierung von Modellen zu Standortsystemen daher notwendig: Was, wenn es nicht Agglomerationseffekte u.ä. sind, die Standorte gegeneinander ausspielen? Welche stabilisierende Bedeutung haben ereignishafte Krisenmomente, Arbeiter*innen-Aufstände oder Ausnahmezustände (Freihandelszonen, Kriege, Olympiaden, Börsen-Crashs)? Inwieweit sind diese Treiber von raum-zeitlichen Umstrukturierungen auf globaler und lokaler Ebene? Statt Wirtschaftsgeographien also aus dem Blickwinkel des Raums oder der Innovation zu schreiben, würden so Fragen nach Macht- und Herrschaftsstrukturen, nach Kämpfen und Aushandlungen in den Vordergrund rücken.

Zur Bedeutung von Krisen und Ausnahmezuständen, bspw.: Harvey (2014), Smith (1984), Klein (2007). …oder als Video: https://www.youtube.com/watch?v=B3B5qt6gsxY (01-03-2018). Historisch kann Rosa Luxemburgs „Akkumulation des Kapitals“ als eine der ersten historisch-geographischen Auseinandersetzungen mit dieser Problematik gesehen werden: Luxemburg (1913).

Alles Kapitalismus oder was?

Dass also Alles scheinbar irgendwie Kapitalismus ist oder mit diesem zusammenhängt, hat in diesem Verständnis seinen Ursprung: jeder Produktionsprozess wirkt wie einer für den kapitalistischen Weltmarkt, jede kommunale Öffentlichkeitsarbeit wie eine Inwertsetzung eines Standort-Images für „das globale Kapital“, jede Reform eine Fortsetzung kapitalistischer Prinzipien, jeder Markt eine Ausweitung kapitalistischer Kommodifizierung… Diese Darstellung ist für eine kritische Auseinandersetzung nicht immer hilfreich, da sie wichtige Fragen offenlässt: Was ist dann eigentlich nicht-kapitalistisch? Wie kommen wir aus der Logik der kapitalistischen Akkumulation raus?

Die feministischen Wirtschaftsgeographinnen Gibson-Graham sprechen angesichts dieses Mangels vom Problem der Kapital-Zentriertheit – (capitaloscentric). Gemeint ist hiermit nicht ein naiver Optimismus, hoffend auf eine Realität fern kapitalistischer Machtverhältnisse, denn auch sie zweifeln nicht, dass kapitalistische Inwertsetzung, Lohnarbeit, Warentausch, Geld und Märkte in der Tat eine zentrale Rolle in den meisten gesellschaftlichen Zusammenhängen spielen. Allerdings sollte genau betrachtet werden, was daran nun kapitalistisch ist und was überhaupt als Wirtschaften gesehen wird.

Zwei Werke der feministischen Wirtschaftsgeographinnen Julie Graham und Katherine Gibson: Gibson-Graham (1996, 2006).

Zum einen kann eine kapital-zentrierte Sichtweise dazu führen, wirtschaftsgeographische Phänomene außerhalb der Lohnarbeit zu vernachlässigen: so z.B. Haus- und Sorge-Arbeit, Freizeitaktivitäten, die Arbeit von Versklavten, Freundschaftsdienste u.v.w.m. Die kapital-zentrierte Sichtweise verschleiert somit gesellschaftliche Prozesse und Tätigkeiten, in denen problematische Formen des Wirtschaftens existieren. Zum anderen wird mit diesem Fokus vernachlässigt, dass gegenwärtige gesellschaftliche Prozesse über die kapitalistische Produktionsweise hinausweisen können: Wenn die kapitalistische Akkumulation darauf beruht, dass (a) Menschen ohne eigene Produktionsmittel und ohne Möglichkeit zur Selbstversorgung zur Lohnarbeit gezwungen werden sowie (b) Produktions-, Zirkulations- und Konsumptionsprozesse zur Realisierung von Mehrwert dienen und nicht nach anderen Mechanismen strukturiert werden, dann gibt es also auch sogenannte Möglichkeitsbedingungen, d.h. nicht fixe Umstände und Voraussetzungen.

Diese Bedingungen müssen an vielen Orten permanent hergestellt werden – Privateigentum bspw. über die Polizei, die Koordination von Produktions-, Zirkulations- und Konsumptionsprozessen über eine Vielzahl von staatlichen Maßnahmen, über Planung, Produktwerbung, etc.. Die permanente, macht-geladene Herstellung dieser Möglichkeitsbedingungen bietet dabei immer auch Chancen, dass die kapitalistische Akkumulation scheitert. Innerhalb dieser Grundbedingungen des Kapitalismus und ihrer Gewährleistung sind demnach auch immer Möglichkeitsräume für ein anderes Wirtschaften zu vermuten.

Die feministische Politikwissenschaftlerin Nancy Fraser fasst diese Ermöglichungsbedingungen unter dem Begriff „background conditions“: Fraser (2014). Holland‘s minoritärer Marxismus führt zu ähnlichen Schlussfolgerungen: Holland (2011), S. 99-140.

Nach alternativen Wirtschaftsgeographien zu suchen, bedeutet damit also nicht einfach nur, außerhalb des engen, in Geld gemessenen, Anteils des gesellschaftlichen Lebens wirtschaftliche Praktiken zu analysieren und somit den tatsächlichen Umständen gerechter zu werden; es bedeutet auch, Potenziale für eine Vergesellschaftung jenseits von Kapital und Staat zu erkunden.

Literatur

Fraser, N. (2014): Behind Marx’s Hidden Abode. For an Expanded Conception of Capitalism. In: New Left Review, 86, S. 55-72.

Gibson-Graham, J.K. (1996): The End of Capitalism (As We Knew It): A Feminist Critique of Political Economy. Oxford: Blackwell .

Gibson-Graham,J.K. (2006): A Postcapitalist Politics. Minneapolis: University of Minnesota Press.

Harvey, D. (2007): The Limits to Capital. London: Verso.

Harvey, D. (2014): Seventeen Contradictions and the End of Capitalism. London: Verso.

Holland, E. (2011): Nomad Citizenship: Free-Market Communism and the Slow-Motion General Strike. Minneapolis: University of Minnesota Press.

Klein, Naomi (2007): Die Schock-Strategie: Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus. Frankfurt a.M.: Fischer.

Luxemburg, R. (1913): Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus. Berlin: Vorwärts.

Postone, M. (1995): Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch. In: Wert, M. (Hrsg.) (1995): Antisemitismus und Gesellschaft; zur Diskussion um Auschwitz, Kulturindustrie und Gewalt. Frankfurt a.M.: Neue Kritik, S. 29-43.

Smith, N. (1984): Uneven development. New York: Blackwell.