Wirtschaft(en)

Wirtschaft(en)

Wenn wir über ,die Wirtschaft‘ nachdenken, fallen uns vermutlich zunächst Meldungen aus den Nachrichten ein: in der Wirtschaft gehe es demnach um Arbeitsplätze, Geld, Wohlstand, Exporte, Handel, Schulden sowie vor allem um Wachstum. Fragte man uns, was denn das Wirtschaften ausmache, so würden wir vermutlich Folgendes antworten: beim Wirtschaften geht es um die Produktion, Verteilung und Konsumtion von Gütern, um die Bewirtschaftung und den Einsatz knapper Ressourcen. Während wir in allgemeinen gesellschaftlichen Diskussionen häufig über gesamtwirtschaftliche (makroökonomische) Phänomene sprechen, erscheinen diese im einzelnen (mikroökonomisch) betrachtet als Ergebnisse von Handlungen, ökonomischen Entscheidungen oder Zufällen. Je nach individuellem Erfahrungs- und Sozialisierungshintergrund erscheint vieles dann wie selbstverständlich: Es gibt Güter, die irgendwem gehören; diese haben Preise und verschiedene Akteur*innen produzieren und verkaufen sie mittels des Geldes. Der alltagsweltliche common sense füllt die Lücken von schwer vorstellbarem oder einfach nicht bekanntem.

Wenn wir jedoch mit etwas Distanz auf die selben Zusammenhänge blicken, indem wir bspw. aus geschichtlicher Perspektive andere Produktions- und Wirtschaftsweisen zum Vergleichspunkt nehmen, wird erkennbar, dass an einer gegebenen Umgangsweise mit Ressourcen und Gütern nichts natürliches oder selbstverständliches auszumachen ist. Wir begegnen Gesellschaftsformen, in denen es z.B. kein Privateigentum gab, die kein Geld nutzten und in denen Arbeit bspw. als Leibeigenschaft und nicht als Lohnarbeit organisiert wurde. Und auch innerhalb gegenwärtiger Verhältnisse wird plötzlich unklar, was bspw. „wirtschaftliches Handeln“ ausmacht und was nicht: Zählt nur das zur Wirtschaft, wofür gezahlt wird? Was wäre dann mit Sorgearbeit (care work) in Familien? Wozu sollen Transaktionen gezählt werden, die nicht über Geld (monetär) vermittelt werden, da es sich bspw. um Geschenke und Freizeittätigkeiten handelt? Und wie ist das mit „der Natur“ – also z.B. den Bienen, die eine wichtige Rolle in der Funktion von Ökosystemen spielen, irgendwie ja auch etwas produzieren, aber im engeren Sinne nicht an der menschlichen Wirtschaft teilhaben?

Dabei wird deutlich, dass es eine zu verhandelnde Frage ist, was innerhalb gegebener Institutionen und sozialer Verhältnisse als „Wirtschaften“ anerkannt wird und was nicht. Jede beschreibende (deskriptive) Darstellung transportiert auch gewisse wertende (normative) Aussagen.

Der wirtschaftsgeographischen Betrachtung von Standortsystemen und Raumsystemen gehen somit häufig nicht genannte (implizite) oder nicht bewusst getroffene Entscheidungen voraus: was wird überhaupt als relevanter Bestandteil eines Standortes oder eines wirtschaftlichen Ablaufes gesehen? Wenn wir uns bspw. mit historischen Beispielen von Clustern produzierender Industrien beschäftigen und Agglomerationseffekte als erklärende Variablen heranziehen, rücken dabei die konkreten Lebensrealitäten der in diesen Betrieben aktiven Arbeiter*innen, ihre täglichen Routinen, Kämpfe und Lohnabhängigkeitsverhältnisse in den Hintergrund.

Zur Kritik der Verwendung des „Raums“ als erklärende Variable, siehe z.B.: Belina (2008; 2013). Zur einem kritischen Ansatz geographischer Industrialisierung: Storper & Walker (1989).

Es ist möglich, Wirtschaftsgeographien zu entwickeln, in denen technologische und organisatorische Innovationen und Agglomerationseffekte den Verlauf von Standortentwicklungen erklären. Das ist nicht nur möglich – es wird in der Regel innerhalb dominanter Lehrmeinungen so gemacht! Doch durch solch eine Repräsentation wird ebenfalls der beschriebene Verlauf normalisiert, manchmal scheint er sogar als quasi „natürlicher“ Ablauf, der sich aus Innovationen ergibt. Hierin liegt auch die wertende und problematische Dimension dieser Ansätze: statt historisch-geographische Prozesse als Prozess-Ergebnisse von gesellschaftlichen Machtkämpfen zu verstehen, werden sie „naturalisiert“ (sie erscheinen als natürliches Resultat eines unveränderlichen Prozesses).

Was bedeutet das für eine geographische Betrachtung von wirtschaftlichen Prozessen? Erst einmal, dass jede Darstellung, die uns in Medien, im Vorlesungssaal oder sonst wo begegnet, radikal hinterfragt werden sollte: welche Faktoren werden hier warum berücksichtigt? Welche werden ausgeklammert und welche Auswirkungen haben diese Auslassungen für unser Verständnis der Prozesse? Es erscheint leichter, Prozesse anhand von einigen Variablen zu erklären, noch dazu, wenn diese so verlockend einfach und selbstverständlich daher kommen, wie die „Lagerente“, die „geographische Entfernung“ oder in der Form von harten Standortfaktoren (Grundsteuern, BIP/Kopf, Lohnniveaus etc.), die ohnehin schon von behördlichen Stellen erfasst werden. Diese vermeintliche Einfachheit bedeutet jedoch nicht, dass sie deswegen irgendwie genauere Erklärungen liefern könnten; noch bedeutet sie, dass die Erklärungen „wissenschaftlich-neutraler“ wären. Der Rückgriff auf solche Erklärungsmuster deutet vor allem auf die Faulheit hin, sich nicht mit den konkreten historisch-geographischen Umständen eines Wirtschaftsprozesses zu beschäftigen sowie auf die Zurückhaltung, dessen Umkämpftheit anzuerkennen. Landwirtschaftliche Standortsysteme bspw. anhand der Entfernungen zum Marktort und des damit einhergehenden Kostenaufwandes für landwirtschaftliche Betriebe zu erklären, klammert vielerlei Dinge aus: unter welchen Bedingungen sind die Arbeiter*innen tätig, die diese landwirtschaftlichen Waren produzieren? Oder: Welche Monopolstellungen genießen die Grundeigentümer*innen womöglich aus Überbleibseln feudaler sozialer Verhältnisse?

Aufgrund dieser Komplexität formierten sich bspw. auch die Ansätze der Commodity und Value Chains (Waren und Wertschöpfungsketten): Gereffi & Korzeniewicz (1993). Eine Illustration des Commody Chain-Ansatzes am Beispiel der Tomate liefern Berndt & Boeckler (2012).

Die Raumüberwindung zur Vermarktung von Waren findet in einem Gefüge aus technologischen Möglichkeiten, sozialen Verhältnissen sowie staatlich-formellen und informellen Regelungen statt: warum werden also ausgerechnet diese vernachlässigt und zu Gunsten einer entpolitisierten Darstellung eines räumlichen Entscheidungskriteriums (eines räumlichen Determinismus) aufgegeben?

In diesem skizzierten Problemfeld liegen die Potenziale für eine andere geographische Betrachtungsweise wirtschaftlicher Verhältnisse, die dominante Erklärungsmuster hinterfragen und alternative Organisationsmodelle für gesellschaftliches Zusammenleben aufzeigen.

Literatur

Belina, B. (2008): Geographische Ideologieproduktion – Kritik der Geographie als Geographie. In: ACME: An International Journal for Critical Geographies, 7(3), S. 510-537. Online: https://www.acme-journal.org/index.php/acme/article/download/817/675 (01.03.2018).

Belina, B. (2013): Raum: zu den Grundlagen eines historisch-geographischen Materialismus. Einstiege 20. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Berndt, C. & M. Boeckler (2012): Geographien Tiefer Integration: Das Beispiel des Agrarhandelszwi-schen Mexiko und den USA. In: Journal für Entwicklungspolitik, XXVIII (1), S. 54–79. Online: http://www.mattersburgerkreis.at/dl/LmLuJMJknOJqx4KooJK/JEP-2-2012_04_BERNDT_BOECKLER_Geographien-Tiefer-Integration-Das-Beispiel-des-Agrarhandels-zwischen-Mexiko-und-den-USA.pdf (01.03.2018).

Gereffi, G. & M. Korzeniewicz (1993): Commodity Chains and Global Capitalism. Westport: Praeger.

Storper, M. & R. Walker (1989): The capitalist imperative: territory, technology and industrial growth. Oxford : Blackwell.