Vorwort

Vorwort

In diesem Glossar soll es darum gehen, sich mit tradierten Vorstellungen zur Wirtschaftsgeographie auseinanderzusetzen. Dieser Unternehmung stellen wir uns aus verschiedenen Gründen. Allen voran steht dabei wohl eine gewisse Zuneigung zu alternativen Praxen und Kämpfen, die jenseits von kapitalistischen Märkten, Monopolen und Zwangsverhältnissen stattfinden.

Wir wollen keine Wunschvorstellungen per Theorie ins Leben rufen. Alternative Formen des Wirtschaftens und gemeinsamen Wirkens existieren bereits überall. Dominante Vorstellungen und Modelle räumen ihnen jedoch keinen Platz ein. Sie werden übersehen, missverstanden oder in bestehende Denkmuster gepresst. An dieser Ungerechtigkeit gegenüber den vielfältigen Orten, an denen abweichende Vorstellungen sprießen, möchten wir nicht teilhaben.

Wir stellen fest, dass der Wirtschaftsgeographie eine große Verantwortung zukommt, wenn es darum geht, diesen alternativen Praxen und Ansätzen des Wirtschaftens eine größere Bedeutung einzuräumen. Anders als ihre Verwandten aus den Wirtschaftswissenschaften bietet die Unterdisziplin der Wirtschaftsgeographie eine Offenheit, in der anderen Produktions-, Zirkulations- und Lebensweisen Beachtung geschenkt werden kann.

Was wir jedoch gegenwärtig an den Universitäten von der Wirtschaftsgeographie zu sehen bekommen, bleibt weit hinter diesem Potenzial zurück. Statt alternative Erzählungen und Forschungsarbeiten zu vielfältigen und kontextspezifischen Formen des Wirtschaftens zu präsentieren, werden alte Modelle und theoretische Erklärungen bemüht.

Textboxen wie diese verwenden wir im Glossar, um auf weiterführende Texte und Inhalte zu verweisen. Wir zitieren dabei nicht „wissenschaftlich korrekt“, die Nachweise gibt es jedoch trotzdem und sie sind in den empfohlenen Büchern, Artikeln und Videos zu finden.

Mit dem Ziel, einen Beitrag zur Schaffung alternativer Wirtschaftsgeographien zu leisten, möchten wir noch einmal von Vorne anfangen: wir möchten uns fragen, was Wirtschaften überhaupt bedeuten kann. Was verstehen wir unter verschiedenen Wirtschaften? Denken wir nicht zu wenig über die Grundkategorien unseres Arbeitens nach? Was ist 1 Preis? Was ist Geld? Was für Märkte gibt es? Wie denken wir Raum? Welche Macht- und Herrschaftsverhältnisse betrachten wir, wenn wir uns mit Wirtschaftsgeographien beschäftigen?

Überraschenderweise mussten wir feststellen, dass viele dieser Begriffe und Konzepte viel zu wenig reflektiert und diskutiert werden. Stattdessen stürzen wir uns ausgerüstet mit alt-bekannten Literaturverzeichnissen, Modellen und Theorie-Ansätzen mitten in ein uns begegnendes Wirtschaftsgeschehen… Uns scheint das aus wissenschaftlichen Gründen problematisch und aus politischen Gründen bedenklich: nie nähern wir uns unvoreingenommen einem Problem oder Themenkomplex. Immer müssen wir uns daher bewusst machen, was wir uns da gerade zum Forschungs-,Objekt‘ machen und was unsere wissenschaftliche Intervention bedeuten kann!

Kommunikation: Sinn und Zweck von Kommunikation ist nicht nur das „Senden“, sondern auch das „Verstehen“. Wir haben versucht, dieses Glossar in einfacher Sprache zu gestalten und wo möglich auf Fachbegriffe zu verzichten. Wir bitten daher um Verständnis, falls etwas hier und da nicht so ganz nach wissenschaftlichen Maßstäben adäquat dargestellt wird.

In diesem Sinne möchten wir uns im folgenden Glossar mit einigen Grundbegriffen beschäftigen, die unserer Einschätzung nach im Bereich der Wirtschaftsgeographie häufig zu wenig Beachtung finden. Wir hoffen damit zum Nachdenken und Lesen anzuregen sowie zu anderen sozialen Praxen zu ermutigen!

§1 Was ist das hier?

Dies ist ein Glossar. Der Duden definiert das Glossar als „selbstständig oder als Anhang eines bestimmten Textes erscheinendes Wörterverzeichnis“. Dieses Dokument verzeichnet Begriffe, die den Gegenstand der Wirtschaftsgeographie darstellen. Es kommentiert diese Begriffe in dem es auf Ansätze zugreift, die unserer Auffassung nach von der gängigen Lehrmeinung dessen, wie Wirtschaften(en) und Geographie zusammengedacht werden, abweichen.

§2 Was ist das hier nicht?

Dies ist kein Lehrbuch: Dieses Dokument erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es ist auch nicht dazu gedacht, einen alternativen Kanon aufzustellen, der die Grundlage alternativer Wirtschaftsgeographien sein kann. Dies ist kein Reader: Dieses Dokument ist keine Zusammenstellung von Primärliteratur.

§3 Warum das Ganze?

Dieses Glossar entstand im Zuge der Auseinandersetzung mit der gängigen Lehrmeinung zur Wirtschaftsgeographie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Wirtschaftsgeographie ist Pflichtbestandteil der dortigen Geograph*innenausbildung und wird routiniert auf Bachelor- und Masterniveau in Vorlesungen und Seminaren unterrichtet. Die Lehrinhalte vermitteln den Eindruck, dass sich die Wirtschaftsgeographie mit Standorten und Standortsystemen wirtschaftlicher Aktivitäten beschäftigt. Als wirtschaftliche Aktivitäten werden jene begriffen, die in der Landwirtschaft, Industrie und im Dienstleistungssektor verrichtet und von Betrieben, Nachfrager*innen und Politiker*innen gestaltet werden.

Was ist, wenn wir diesen Begriff wirtschaftlicher Aktivität problematisieren? Was ist, wenn wir dessen scheinbare Selbstverständlichkeit thematisieren? Hierin liegt unser Anliegen. Dazu angeregt wurden wir durch eine gewisse Zuneigung zu alternativen Praxen und Kämpfen, die jenseits von kapitalistischen Märkten, Monopolen und Zwangsverhältnissen stattfinden. Wie wir darauf aufmerksam wurden? Durch Lesekreise, Konferenzen, Demos, Vorträge, eigene Recherche – häufig und bezeichnenderweise außerhalb eines universitären Kontexts, in dem es für die Beschäftigung mit alternativen Praxen und Kämpfen keinen Raum zu geben scheint. Also nehmen wir uns diesen Raum!

Warum ausgerechnet die Wirtschaftsgeographie? Disziplinhistorisch betrachtet ist die Wirtschaftsgeographie seit langem als Teildisziplin der Humangeographie institutionell und ideell verankert. Das bedeutet zum einen, dass sie Legitimität für sich beanspruchen kann, zum anderen jedoch dass sie auf höchst problematische Art und Weise mit den gewaltsamen und ausbeuterischen Kolonialismen der sich formierenden Nationalstaaten der europäischen Moderne verwoben war. Des weiteren zeichnet sich die (Wirtschafts)Geographie durch eine konzeptionelle Offenheit aus, da ihr Forschungsgegenstand (Raum) zentraler Bezugspunkt menschlichen Handel(n)s ist. Außerdem ist Wirtschaftsgeographie eine der pragmatischsten Teildisziplinen der Humangeographie, sofern sie sich innerhalb der neoliberalisierten Universität als Berufsvorbereitung für die Planung und Steuerung wirtschaftlicher Aktivitäten begreift. Aus alldem ergibt sich eine Verantwortung (Accountability), mit der die Wirtschaftsgeographie sich und die Grundlagen ihres (Wissen)Schaffens kritisch reflektieren sollte.

Wir haben uns in Eigenregie daran gemacht, über die Grundbegriffe unseres Arbeitens nachzudenken, weil wir nach der Lektüre von Gibson-Grahams A Postcapitalist Politics begeistert davon waren, was mensch alles unter Wirtschaftsgeographie verstehen kann. Dem gegenüber steht die enttäuschende Einsicht, dass sich diese Perspektive (und andere mehr) in der antiquierten Lehrmeinung der Wirtschaftsgeographie an der HU Berlin nicht wiederfand. Grundsätzlich kritisieren wir also den Prozess, durch den bestimmte Inhalte zum Gegenstand der Wirtschaftsgeographie gemacht werden und andere Inhalte außen vor lässt. Der somit institutionalisierte Wissensbestand gibt vor, universell und umfänglich zu sein. In diesem Sinn ist dieses Glossar der Versuch, einer Gegenerzählung darüber, was Wirtschaftsgeographie war, ist und sein kann, Raum zu geben. Wir sind uns bewusst, dass unser Glossar dabei seine eigene Geographie hat – der Wirtschaftsgeographie, die wir hierin kritisieren, begegneten wir in der BRD bzw. Berlin und wir wissen, dass sie andernorts und besonders im anglophonen Raum vielfältiger ist.

§4 Zum Gebrauch

Im nachfolgenden Kapitel erweitern wir unsere Kritik an der gängigen Lehrmeinung zur Wirtschaftsgeographie. Unser Augenmerk liegt dabei auf einer erkenntnistheoretischen Kritik, d.h. wir hinterfragen, wie Wirtschaftsgeographie gemacht wird, insbesondere welche Themen als legitim anerkannt werden und welche nicht.

Im Hauptteil des Glossars diskutieren wir Begriffe, die die Grundlage unseres Nachdenkens über die Geographien der_des Wirtschaft_ens bilden. Die Auswahl erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, ebenso wenig wie die Diskussion. Stattdessen soll sie Alternativen zur gängigen Lehrmeinung dessen, was Wirtschaftsgeographie und die Geographien des Wirtschaftens ausmacht, aufzeigen. Dies erfolgt unter Rückgriff auf Literatur, die sich einige von uns in außeruniversitären Lesekreisen zur Politischen Ökonomie angeeignet haben und die wir für überzeugend halten.

Dort, wo sich der Bezug zu weiterführender Literatur anbietet, verweist eine Textbox neben dem Fließtext auf das entsprechende Werk. In Fußnoten nehmen wir Ausführungen und Exkurse vor, die über die Argumentation des Fließtextes hinausweisen. Am Ende eines Kapitels finden sich ausführliche Literaturhinweise für die eigene Recherche.

Dieses Glossar ist als Nachschlagewerk konzipiert. Es muss daher nicht linear, d.h. Von Anfang bis Ende gelesen werden. Stattdessen empfehlen wir das Kreuzlesen. Querverweise an relevanten Stellen erleichtern dies.

Uns als Autor*innenkollektiv stellen wir am Ende des Dokuments vor. Dort könnt ihr mehr über uns erfahren.