Wirtschaftsgeographie: was wissen wir wie… oder: warum wir dieses Glossar zusammengestellt haben.
Eine Aussage zu formulieren und zu tätigen hat immer Implikationen, d.h. sie ist Ausdruck einer Reihe von unbewussten und bewussten Entscheidungen: was wird ausgesagt? Wie wird es ausgesagt? Und was bleibt dabei unbenannt? Was für jede Alltagssituation gilt, gilt auch für die Lehre und den Wissenschaftsbetrieb allgemein. Es gibt nicht so etwas wie ein „neutrales“ wissenschaftliches Subjekt, das unvoreingenommen einem Phänomen begegnet, dieses beschreibt, erklärt und die Ergebnisse der Forschungsarbeit dann in den bestehenden Wissenschaftskanon einsortiert.
„Die“ Wissenschaft ist nicht einfach ein großes Wikipedia, das Wissen (methodisch gesicherte Erkenntnis) vervollständigt und weiterentwickelt. Vielmehr wird eine Wissenschaft wie die Wirtschaftsgeographie durchzogen von unzähligen Theorie-Schulen, Denkmustern (Paradigmen), Forschungsansätzen und Arten, die Welt zu begreifen. Entsprechend einer liberalen Einstellung könnten wir dieses Bild positiv bewerten: es gibt diverse Meinungen und Perspektiven und in ihrem Wettstreit wird so etwas wie „wahres“, gutes Wissen produziert – Disziplinen wie die Wirtschaftsgeographie würden so wie eine rationale und von ehrlichem Erkenntnisinteresse bestimmte Debatte erscheinen. Diese Sichtweise halten wir jedoch für falsch und gefährlich. Warum?
Zum Begriff „Paradigma“ (Denkmuster) in der Wissenschaftsgeschichte: Kuhn & Hacking (2012). Zur Bedeutung von Denkmustern in den Wirtschaftswissenschaften: Sedláček (2013)
Wenn wir die im ersten Absatz gemachten Aussagen ernst nehmen, ergibt sich ein anderes Bild: jede Forschungsarbeit, Perspektive und Aussage transportiert eine bestimmte Art, die Welt um uns herum zu verstehen. Es handelt sich nicht um unschuldige „Informationstransfers“; diese sind geknüpft daran, wie die Welt verstanden wird, welche Bestandteile als nennungswürdig erscheinen und welche unbenannt oder ausgeklammert werden. Sich einen „Begriff“ von einem Phänomen machen, bedeutet es auf eine bestimmte Art zu verstehen, von unwichtigen Bestandteilen abzusehen (zu abstrahieren) und andere in den Vordergrund zu stellen. Zwei Sichtweisen sind daher ggf. in einem gewissen Maß nicht kombinierbar (inkommensurable), da sie im Begreifen der Welt unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Wenn wir diese Erkenntnis annehmen, so wird deutlich, dass jede Theorie, wissenschaftliche Aussage und jedes Modell auf eine bestimmte Weise geprägt ist – es regt uns zu einem bestimmten Verständnis der Welt an, das alternative Sichtweisen ausklammert. Mit jeder Aussage – ob wir sie nun im Seminar von einem*einer Professor*in übernehmen, in einem Theoriewälzer oder in einem Youtube-Erklärvideo finden – schreiben wir daher eine gewisse Art, unsere Welt zu verstehen, fort (und erhalten Stille über alternative Sichtweisen).
Zwei Dinge fallen auf: das oben Beschriebene mag (a) selbstverständlich und (b) unproblematisch erscheinen. Selbstverständlich, da es zu jedem Begriff und jedem Modell gehört, von bestimmten Eigenschaften des betrachteten Phänomens abzusehen. Unproblematisch, weil ausgehend von dessen Selbstverständlichkeit grundsätzlich nichts Falsches an dem Begriffe-Machen sein kann; es scheint immer möglich, andere Sichtweisen zu formulieren. Bei einem Gespräch in einer Bar oder einer Diskussion im Seminarraum scheinen diese beiden Überlegungen einleuchtend – bestimmt wirst Du es schaffen, einer geäußerten Argumentation eine eigene Sichtweise entgegenzustellen. Die Verfügbarkeit von Argumenten, Begriffen und den von ihnen transportierten Verständnissen der Welt ist jedoch nicht bedingungslos. Die Zeitungen, Mitmenschen, Lehrer*innen und Textbücher um uns herum bringen bestimmte Perspektiven zum Ausdruck und entnennen ((Das Verb Entnennen soll deutlich machen, dass eine Nennung einer Position oder Sichtweise eine aktive Handlung darstellt, die meist im Übergehen anderer Positionen oder Sichtweisen.)) andere. Bewegst Du Dich bspw. im Fachbereich der Volkswirtschaftslehre wird Dir vielleicht auffallen, dass ökonomische Akteure meist neutral verstanden werden, dass bspw. geschlechterspezifische Hierarchien in Bezug auf (Lohn)Arbeit und Haus-Arbeit (house work) oder Sorge-Arbeit (care work) selten benannt werden. Bewegst Du Dich bspw. in einer Wirtschaftsgeographie-Vorlesung in Berlin so wird anhand von Modellen, die aus der Erfahrung der europäischen und nordamerikanischen Wirtschaftsentwicklung abgeleitet wurden, versucht, Wirtschaftsentwicklung allgemein zu erklären – ganz zu schweigen von Fragen zu Verhältnissen von Ausbeutung und Herrschaft, die als erklärende Variablen ausgeklammert werden und somit unbenannt bleiben. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob ich die Wirtschaft als ein Feld verstehe, das durch Akteure, wie Unternehmen, Nachfrager*innen oder Politiker*innen, gestaltet wird oder als ein Gefüge, in welchem Klassen – Arbeiter*innen, Grundeigentümer*innen und Kapitalist*innen – um Machtverhältnisse streiten. Kurz gesagt: sich in einem gesellschaftlichen Kontext zu bewegen heißt, ein von Machtbeziehungen durchzogenes Gebiet zu durchschreiten, in dem manche Begriffe, Modelle und Sichtweisen dominant sind, während andere bewusst oder unbewusst ausgeklammert werden.
Hierzu (postkoloniale) Kritiken wie: Castro Varela & Dhawan (2015), Massey (1998). Für eine philosophische Auseinandersetzung mit dem abendländischen „Bild des Denkens“: Deleuze (1992).
Das vermeintlich neutrale wissenschaftliche Subjekt ist immer ein*e Akteur*in, der*die in der Weise, wie er*sie seine Realität fasst, gesellschaftlich anerkannte Sichtweisen, Repräsentationen und Begriffe (re)produziert. Der „gesunde Menschenverstand“, der common sense mit dem wir scheinbar unbefleckt und „neutral“ die wissenschaftliche Bühne betreten, ist auf eine bestimmte Art (vor)geprägt. Diese Art der Prägung nicht aktiv zu hinterfragen, indem mensch sich mit anderen Theorien und Daten auseinandersetzt, bedeutet, die momentan dominante Weise, die Welt zu verstehen, fortzuschreiben.
Gerade dies ist eines der zentralen Anliegen post- und dekolonialer Ansätze, die deutlich machen, wie stark unsere (eurozentrischen) Geschichtsschreibungen und Vorstellungen gegenwärtiger Verhältnisse von einem impliziten Fokus auf den Erfahrungen der Kolonialisierenden und einer europäischen Vorstellung von Modernität basieren: post- und dekoloniale Ansätze greifen die in den meisten akademischen Diskussionen dominante Art der Wissensproduktion, ihre Ausdrucksformen sowie die für sie typischen Fragestellungen und Denkmuster an.
Und hier sind wir an dem Punkt, wo der Einwand, dass am Wissenschaftsbetrieb nichts „Problematisches“ sei, fragwürdig wird. Es braucht keinen Blick in die USA des neugewählten Präsident Dumpfbacke oder in Richtung des Massengrabs des Mittelmeers, um zu erkennen, dass irgendetwas am Status quo nicht stimmt: an vielen Stellen werden uns tagtäglich Ungerechtigkeiten, sozial-ökonomische und ökologische Grenzen vorgeführt. Mit der gängigen und dominanten (hegemonialen) Weise, die Welt zu verstehen, scheint etwas nicht in Ordnung zu sein. Wenn es als Geograph*innen unsere Rolle ist, Prozesse in der Welt zu beschreiben und zu erklären, fällt uns damit auch die Rolle zu, über die (Be)Deutung dieser Prozesse mitzuentscheiden. Und wenn etwas mit der Art, wie global gewirtschaftet wird, nicht stimmt, sollte es der Wirtschaftsgeographie zufallen, diese Probleme zu benennen und ins Zentrum ihrer Betrachtung zu stellen, statt sie auszuklammern.
Literatur
Deleuze, G. (1992): Differenz und Wiederholung. München: Wilhelm Fink.
Kuhn, T. S. & I. Hacking (2012): The structure of scientific revolutions. 4. Ausgabe. Chicago; London: The University of Chicago Press.
Massey, D. (1998): Power-geometries and the Politics of Space-time. Hettner-Lecture.Heidelberg: Universität Heidelberg.
Sedláček, T. (2013): Die Ökonomie von Gut und Böse. München: Goldmann.
Castro Varela, M. M. & N. Dhawan (2015): Postkoloniale Theorie: Eine kritische Einführung. Bielefeld: Transcript.